Beim Präsentieren vor Publikum sind grundsätzlich zwei Aspekte zentral: Was erlebe ich als Präsentierende? Und: Was erlebt das Publikum? Daraus folgt die Frage: Hängen diese beiden Aspekte miteinander zusammen? Hat mein eigenes Erleben einen Einfluss auf das Erleben des Publikums?
Das mag zunächst banal scheinen, denn natürlich beeinflusst mein eigenes Verhalten, meine Präsentationsweise, mein Auftritt die Rezeption meiner Zuschauerschaft. Doch ganz so banal ist es nicht.
In all meinen Seminaren befrage ich die Teilnehmer*innen, wie sie sich selbst beim Präsentieren erleben. Was fällt ihnen auf, was steht ihnen im Weg, was würden sie gerne ändern? Dabei höre ich immer wieder eine Antwort: Ich bin schrecklich nervös – und das sieht man mir an. Mit anderen Worten: Die präsentierende Person glaubt, dass ihre Aufregung von außen genauso wahrnehmbar ist wie von innen. Sie nimmt an, man könne in ihr lesen, wie in einem offenen Buch. Man könnte auch sagen, sie geht davon aus, transparent für ihre Zuschauerschaft zu sein.

Doch diese Annahme ist eine Illusion. Folgerichtig heißt das Phänomen „Illusion der Transparenz“. 2002 wurde es an der Cornell Universität in Ithaca, New York, wissenschaftlich untersucht. Die Studie widmet sich den eingangs gestellten Fragen: Was erlebt die Rednerin/der Redner, was erlebt das Publikum und wie beeinflusst sich beides gegenseitig?
Rednerinnen und Redner schätzen sich selbst nervöser ein
Bereits 1987 fanden Forscher heraus, dass Redner*innen sich selbst als viel nervöser einschätzten als das Publikum es wahrnahm. 15 Jahre später stellten sich K. Savitsky und T. Gilovich an der Cornell Universität die Frage, ob die „Illusion der Transparenz“ Redeangst beim Präsentieren verstärkt. Ob es also für Redner*innen eine zusätzliche Belastung darstellt, wenn sie vermuten, sie seien „transparent“, man könne sie durchschauen, ihre Angst wäre für das Publikum offensichtlich. Viele Redner*innen beschreiben, dass ein Teil ihrer Redeangst darin besteht, zu zittern, rot zu werden oder andere Anzeichen von Angst auszustrahlen. Menschen fürchten also, furchtsam zu wirken. Wenn nervöse Redner*innen der Meinung sind, dass sie „transparent“ für ihre Zuhörerschaft sind, dann könnte sich ihre Nervosität dadurch verstärken, dass sie sich durchschaut fühlen. So baut sich immer mehr Nervosität auf. Der „Illusion der Transparenz“-Effekt ist also ein sich selbst verstärkendes Phänomen. In ihrer Studie zeigten Savitsky und Gilovich, dass genau das der Fall ist. Wer glaubt, für sein Publikum „transparent“ zu sein, wer also glaubt, die eigene Nervosität wäre genau in dem Maße sichtbar, wie man sie selbst wahrnimmt, der steigert (unbewusst) die eigene Nervosität.
Nervosität führt zu mehr Nervosität
In einer zweiten Studie untersuchten Savitsky und Gilovich, ob das Bewusstsein, dass es sich um eine Illusion handelt, ob also die Anerkennung, dass die eigene Angst für andere weniger wahrnehmbar ist als für einen selbst, ob dieses Bewusstsein dafür sorgen kann, Redeangst zu verringern.
Wenn die Redner*innen über den „Illusion der Transparenz“- Effekt informiert sind, wenn sie verstehen, dass ihre innere Wahrnehmung nicht „transparent“ ist, dann, so die These von Savitsky und Gilovich, können sie sich entspannen und die Qualität ihres Vortrags verbessern.
An der Cornell University wurde dazu eine Studie mithilfe von 117 Studierenden angefertigt. Anhand improvisierter Vorträge vor Mitstudierenden wurde untersucht, wie sich Nervosität auf die Präsentationen auswirkte. In einer zweiten Studie wurde die Versuchsgruppe geteilt. Einem Teil wurde der „Illusion der Transparenz“-Effekt erklärt (also die Tatsache, dass es eben eine Illusion ist, dass Außenstehende das eigene Befinden eins zu eins durchschauen), einem anderen Teil wurde nur gesagt, sie brauchten sich keine Sorgen über die eigene Nervosität zu machen.
Wissen besiegt Lampenfieber
Die Qualität der Reden und der Grad der Gelassenheit während des Auftritts wurde nun von Mitstudierenden bewertet. Es zeigte sich, dass diejenigen, die über den „Illusion der Transparenz“-Effekt informiert worden waren, sich selbst als qualitativ besser und gelassener einschätzten. Auch ihre zuschauenden Kommiliton*innen schätzten ihre Auftritte als besser und gelassener ein. Bei den Teilnehmer*innen, die nur mit allgemeinen Phrasen á la „mach dich nicht verrückt“ beruhigt wurden, die aber den Effekt nicht erklärt bekamen, war dies nicht der Fall.
Die Studien legen nahe, dass das eigene Auftreten bei Präsentationen gezielt verbessert werden kann. Ein Aspekt dabei ist der „Illusion der Transparenz“-Effekt. Wer sich darüber im Klaren ist, dass das Publikum weniger von der eigenen Nervosität mitbekommt als man selbst, kann sich besser auf die Inhalte fokussieren, wirkt gelassener und souveräner.
Dafür gibt es im Theater die Regie…
In meinen Seminaren habe ich diesen Effekt hunderte Male erlebt. Dass er einen Namen hat und wissenschaftlich belegt ist, habe ich hingegen erst kürzlich erfahren. Meine Erfahrung zeigt, dass sich die Qualität der Präsentationen von Workshopteilnehmer*innen in kurzer Zeit rasant verbessern. Das liegt daran, dass es einen großen Unterschied macht, von außen gespiegelt zu werden. Aus diesem Grund gibt es im Theater Regisseur oder Regisseurin. Sie spiegeln und übersetzen, was von außen wahrgenommen wird. Sie vermitteln zwischen dem inneren Bild und der äußeren Erscheinung und formen sie so, dass sie miteinander in Einklang kommen. Ein Aspekt davon ist das Wissen um den „Illusion der Transparenz“-Effekt. Dieses Wissen verlagert den Fokus der Präsentierenden von innen nach außen, vom kritischen beobachten des eigenen Zustandes hin zu einer Präsenz im hier und jetzt. Diese Präsenz ermöglicht es, mit dem Publikum in Verbindung zu treten und die eigenen Inhalte in der gewünschten Form, mit dem gewünschten Ausdruck zu vermitteln. Kurz: Das eigene Befinden rückt in den Hintergrund, während die präsentierte Botschaft in den Vordergrund rücken darf.
Mehr zum Thema Nervosität findest du in meinem Artikel „4 schnelle Tipps zum Umgang mit Nervosität“.
Quelle: Savitsky, K. & Gilovich, T. (2003): The illusion of transparency and the alleviation of speech anxiety. Journal of Experimental Social Psychology, 39, 618-625.