Ich bin eine Ur-Ur-Urenkelin des Autors Dr. Heinrich Hoffmann, der unter anderem den „Struwwelpeter“ geschrieben hat. Heute ist sein 131. Todestag und diesen nehme ich zum Anlass, mein Verhältnis zum „Struwwelpeter“ und zu meinem berühmten Vorfahr zu reflektieren. Seit einiger Zeit spielt er nämlich wieder eine größere Rolle in meinem Alltag. Doch dazu später. In meiner Kindheit wurde der „Struwwelpeter“ in vielen Familien noch ganz selbstverständlich vorgelesen. Gleichzeitig wurden kritische Stimmen hörbar. Der Text sei autoritär, er mache Kindern Angst, er stehe für „Ordnung und Sauberkeit“ anstatt für Kreativität und kindliches Chaos…
Autoritär oder kreativ?
Bei uns in der Familie war der „Struwwelpeter“, ebenso wie andere Kinderbücher Heinrich Hoffmanns, „König Nussknacker und der arme Reinhold“, „Bastian, der Faulpelz“ und mein damaliger Favorit „Prinz Grünewald und Perlenfein mit ihrem lieben Eselein“, im alltäglichen Vorlese-Repertoire.
Die Kritik an den Texten habe ich erst viel später verstanden. Ist sie berechtigt? Ich denke, das hat zwei Aspekte. Einerseits die Einordnung in den zeitlichen Kontext, andererseits mit der Situation und den Gegebenheiten in der vorlesenden Familie. Unsere Familie war z. B., würde ich aus heutiger Sicht sagen, recht fortschrittlich. Zum Beispiel war es überhaupt kein Problem, als meine Mutter ihr Studium abbrach und beschloss, stattdessen Schauspielerin zu werden. Kreativität, Schlagfertigkeit und Furchtlosigkeit waren Tugenden, die in der Familie hochgehalten wurden. In dieser Atmosphäre wurde bei uns der „Struwwelpeter“ vorgelesen. Die Kinder, die den Geschichten lauschten, waren es gewohnt, Erwachsene nicht zu fürchten. Sie wussten, dass Sprachwitz und Reime etwas anderes sind als die Realität. So haben z. B. sowohl mein eigenes Kind als auch ich als Kind am Daumen genuckelt. Daumennuckelnd lauschten wir der gruseligen Geschichte vom Schneider, der den nuckelnden Kindern den Daumen abschneidet. Hatten wir Angst vor ihm? Nein, keine Sekunde. Es war eine Gruselgeschichte wie viele andere auch, die nichts mit unserer realen Welt zu tun hatte.
Das bedeutet aber nicht, dass die Geschichten in anderen Verhältnissen nicht beängstigend sein können. Mir haben immer wieder Menschen erzählt, dass sie mithilfe des Struwwelpeters eingeschüchtert und gefügig gemacht werden sollten. Das glaube ich sofort. Wenn Erwachsene die Geschichten als Drohkulisse einsetzen, sind sie für Kinder, die sich der beschriebenen Vergehen „schuldig“ machen, sicher schrecklich.
Autoritär gemeint waren die Geschichten sicher nicht. Denn Heinrich Hoffmann war kein Mensch, der das, was wir unter einen autoritären Erziehung verstehen, also die Unterwerfung des Kindes unter den Erziehungsberechtigten, die Züchtigung bei nicht-gehorchen, körperliche und psychische Strafen etc., guthieß. Er selbst wurde als Kind nicht geschlagen und er lehnte auch für seine Kinder Schläge ab. Sicherlich hieß das Mitte des 19. Jahrhunderts etwas anderes als heute. In der Schule, vielleicht sogar auf der Straße, wurden seine Kinder vermutlich schon geschlagen. Aber zuhause nicht. Die Entstehungsgeschichte seiner Zeichnungen, aus denen nach und nach kleine Geschichten wurden, bestätigt diese Einstellung.
Der Anfang des Struwwelpeter
Heinrich Hoffmann war zu Beginn seiner beruflichen Tätigkeit Hausarzt. Er hatte eine Praxis und war in der Umgebung Frankfurts auch als „Armenarzt“ tätig, das heißt, er wanderte über die Dörfer und versorgte die Landbevölkerung, die sich einen Arztbesuch nicht leisten konnte, mit medizinischem Rat. Kamen Kinder in seine Praxis, so erzählt er in seinen Memoiren, waren sie stets ängstlich und weinten. Denn damals war es üblich, dass Eltern den Kindern entweder mit dem Schornsteinfeger oder mit dem „Onkel Doktor“ zu drohten: „Wenn du das machst, dann kommt der Onkel Doktor“. Die Konsequenz war, dass allein der Gang zum Arzt von den Kindern als Strafe empfunden wurde. Hoffmann erzählt, dass es dadurch fast unmöglich war, die kleinen Patient*innen zu untersuchen. Er nahm also ein Papier und einen Bleistift und begann zu zeichnen. „Oh, was ist das denn? Guck mal, das sind ja ganz wilde Haare. Da war aber jemand lange nicht mehr beim Friseur.“ So sprach er mit den Kindern und begann sie auf die gerade entstehende Geschichte neugierig zu machen. Nach und nach konnte er ihr Vertrauen gewinnen und sie schließlich untersuchen.
Der Wert von Reimen, die jede*r kennt
Ich habe oben geschrieben, dass gerade der „Struwwelpeter“ wieder eine größere Rolle in meinem Leben spielt. Das liegt daran, dass meine Mutter dement ist und ihre Sprache verloren hat. Sie kann keinen Satz mehr bilden. Sie versteht manchmal Fragen, kann aber nicht antworten. Was sie aber kann, ist, altvertraute Reime mitsprechen und Lieder mitsingen. Darum nehme ich immer Bücher und Texte mit zu ihr, lese ihr vor und animiere sie, sich an die Reimworte zu erinnern. Den „Struwwelpeter“ kann sie komplett auswendig und ergänzt, wenn ich eine kleine Pause einlege, fast immer das richtige Wort. Dann lacht sie und ist stolz auf ihre Fähigkeit. Ich halte das für einen essenziellen Wert, denn während 90% des Tages erlebt sie auf frustrierende Weise, dass sie fast nichts kann, fast nichts versteht, nichts beitragen kann, sich nicht äußern kann. Aber in den 30 Minuten, die wir zusammen lesen, reimen und singen, kann sie etwas. Sie weiß, wie es weitergeht. Sie zeigt, dass sie etwas kann. Sie füllt eine Lücke aus in einem Text, obwohl sie keine eigene Sprache mehr zur Verfügung hat. Ich bin froh, dass ich weiß, mit welchen Gedichten, Reimen, Balladen, Liedern und Geschichten sie aufgewachsen ist. So kann ich ihr immer wieder Vertrautes mitbringen und ihr sprachliches Verständnis hoffentlich noch etwas länger wach und aktiv halten. Und ich frage mich, was mit den Menschen ist, die das nicht haben. Oder mit denen, die es hätten, aber niemand in ihrer Umgebung weiß, welche Texte dieses Engagement in ihnen hervorrufen würde. Ich habe im Altersheim meiner Mutter auch Gedichte für andere Bewohner*innen vorgelesen und festgestellt, dass viele auf diesen Kanon zurückgreifen können, auch wenn sie stark eingeschränkt sind. Goethe, Schiller, aber auch Loriot, Morgenstern, Ringelnatz, Erhardt – immer gab es jemanden im Publikum, der das nächste Wort laut hineinrief. Das Gefühl von Teilhabe, von etwas leisten können, nicht „dumm“ zu sein, ist meiner Meinung nach gerade mit einer Demenz sehr wichtig.
Es macht mir Sorge, dass diese „Allgemeinbildung“ sich immer mehr auffächert in viele Unterrubriken, auf die dann irgendwann nicht mehr alle zurückgreifen können. Im Alter zahlen sich die auswendig gelernten Reime, jedenfalls bei einigen, aus. Ich selbst habe, außer auf der Schauspielschule und für Bühnenproduktionen, keine Gedichte mehr auswendig gelernt. Den „Struwwelpeter“ aber, den kann ich immer noch auswendig. Wer weiß, ob es mir nicht eines Tages zugute kommt.
Hier geht es bald weiter…
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