Ich arbeite seit einer halben Ewigkeit als Schauspielerin. 1993 habe ich die Schauspielschule, genauer die Hochschule für Musik und Theater in Hannover, mit dem Diplom abgeschlossen und seither…lerne ich Texte.
Und da ich immer wieder gefragt werde, wie ich das mache mit dem Textlernen, habe ich diesen Blogartikel geschrieben.
Ich stelle hier verschiedene Methoden zum Textlernen vor, die ich seit Jahren anwende. Meistens gehe ich in genau in dieser Reihenfolge vor, die ich hier beschreibe und die sich bewährt hat. Entweder orientierst du dich daran – oder du pickst dir die Methoden raus, die dir vielversprechend erscheinen oder die dein eigenes Lernprogramm ergänzen. So oder so wirst du feststellen, dass Textlernen kein Hexenwerk ist. Die Formel ist einfach: Zeit + Konzentration=Ergebnis.
Schritt 1: Planung
Apropos Ergebnis – Die erste und wichtigste Frage ist: Wann muss der Text auswendig gelernt sein? Oder wie Steven Covey sagen würde: Bereits am Anfang das Ende im Sinn haben! Wann wirst du den Text, den Vortrag, die Vorsprechrolle oder was es auch sei, vor Publikum präsentieren?
Ist der Termin in einer oder zwei Wochen? Wunderbar. Dann lies in Ruhe den Artikel. Danach weißt du, wie du vorgehst, um den Text souverän wie eine Schauspielerin zu lernen.
Zeitdruck?
Ist der Termin schon morgen? Dann rate ich dir, keine Zeit zu verschwenden! Lies dir die Schritte 2, 3 und 5 durch und nutze die dort beschriebenen Methoden. Wenn es noch nicht ganz so knapp ist, dann lies dir auch Schritt 9 durch – und leg los!
Prokrastinieren, also das Aufschieben wichtiger Dinge zugunsten von weniger wichtigen Dingen, ist für das Textlernen sehr ungünstig. Denn „dringend“ kommt einem Textlernen fast nie vor. Wenn du morgen präsentieren musst, gibt es heute nichts Dringenderes, als dich mit dem Text so vertraut wie möglich zu machen. Stell alles andere hinten an!
Schritt 2: Lesen, lesen, lesen
Das Wichtigste beim Text lernen ist, logisch, das Lesen.
In den allermeisten Fällen erhalte ich das vollständige Drehbuch/den Theatertext und lese mir den gesamten Text durch. Das ist wichtig, damit ich alle verfügbaren Informationen über meine Rolle sammeln kann. Ich mache mir Notizen und streiche wichtige Informationen farbig an, damit ich im nächsten Durchgang alles auf einen Blick erfassen kann.
Ich markiere in diesem ersten Durchgang auch alle Textseiten, auf denen meine Rolle vorkommt. Wenn ich den Text nicht digital vorliegen habe, klebe ich selbstklebende Lesezeichen an den oberen Rand, digital pinne ich die Seiten. So habe ich im weiteren Verlauf sofort Zugriff auf meine Szenen und muss nicht danach suchen.
Zusammengefasst:
- ich habe den Text gelesen
- ich habe mir Notizen gemacht
- ich habe alle für mich relevanten Textseiten markiert
Vortragstext lernen
Du beschäftigst dich nicht mit Rollenarbeit, sondern möchtest z. B. einen Vortrag auswendig lernen? Dann dient dieser Schritt der Kontrolle deines Textes: ist der Aufbau logisch und konsequent? Sind die Erklärungen stimmig, die Metaphern überzeugend?
Im nächsten Schritt wirst du dich selbst vortragen hören. Nutze dieses „dir selbst zuhören“, um etwaige Ungenauigkeiten des Textes aufzuspüren. Häufig treten sie beim Hören deutlicher zutage als beim Lesen.
Schritt 3: Laut lesen
Ich kenne nun also das Drehbuch, die Rollen und die Geschichte, die erzählt wird und habe mir alle Stellen markiert, die für meine Rolle relevant sind.
Die Szenen, in denen meine Rolle präsent ist, lese ich nun laut. Nicht ungewöhnlich laut, sondern in einer zur jeweiligen Situation passenden Lautstärke, etwa so, wie man eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen würde.
Ich erlebe es immer wieder, dass Klient*innen mir sagen: „Ja, ich habe den Text vorbereitet. Ich habe ihn mehrfach gelesen.“ Dann frage ich regelmäßig: „Laut?“
Und die Antwort ist: „Nein, nicht laut. Aber das passt schon. Das kann ich mir vorstellen.“
Warst du mal auf einer Theaterprobe? Dort wird nie etwas „nur im Kopf“ geprobt. Im Theater, beim Film, im Radio, überall wird der Text „laut“ ausprobiert. Der Grund dafür ist, dass man nur so hören kann, ob es stimmig ist. Ein anderer Grund ist, dass wir unser Gehirn darauf vorbereiten, wie es im Ernstfall, also vor Publikum, ablaufen wird. Und da wird nichts „im Kopf“ ablaufen, sondern natürlich laut gesprochen. Und genau das wollen wir üben!
Also, auch wenn es sich erstmal merkwürdig anfühlt: sprich den Text beim Üben mit normaler Zimmerlautstärke oder sogar etwas lauter (falls du in einem großen Raum auftreten wirst). DAS wollen wir üben, nicht das leise Sprechen, flüstern oder nur vorsichtig die Lippen bewegen.
Ich spreche den Text so oft laut durch, bis ich Teile davon auswendig, andere sinngemäß wiedergeben kann. Das dauert je nach Textlänge unterschiedlich lange. Erfahrungsgemäß braucht es 5-10 Lautlese-Durchgänge, bis ich den Text einigermaßen verinnerlicht habe.
Schritt 4: Zeit stoppen
Bevor der nächste Schritt startet, mache ich noch etwas, dass mir die Arbeit am Text in den nächsten Tagen erleichtern wird: ich stoppe die Zeit. Ich lese jede Szene laut und stoppe, wie lange ich dafür brauche. Die gestoppte Zeit notiere ich mir am Ende der Szene. So habe ich den Überblick, wieviel Zeit ich für jede Szene als absolutes Minimum einplanen muss.
Anschließend nehme ich meinen Kalender und reserviere jeden Tag Lernzeit.
Rechen-Beispiel
Mein Text ist 25 Minuten lang. Ich habe zwei Wochen Zeit, ihn zu lernen. Ich reserviere also täglich Zeit zum Lernen. In der ersten Woche mache ich noch Fehler und muss Teile mehrmals wiederholen. Da plane ich 45-55 Minuten ein und das eventuell sogar zweimal, wenn der Text sehr schwierig ist, auch dreimal am Tag. Sobald ich sicherer bin, reichen 25-35 Minuten täglich.
Es ist sinnvoll, in der ersten Woche viel Energie auf das Lernen zu verwenden, in der zweiten Woche wird es dadurch sehr viel leichter.
Wie lang ist der Vortrag?
Wie lang ist der Auftritt, der Vortrag, die Begrüßungsrede? Das wollen Veranstalter*innen von uns wissen, damit sie das Event planen können. Genauso essenziell ist es natürlich, beim Veranstaltungsort zu erfragen, wieviel Zeit uns zur Verfügung steht und zu überprüfen, ob das mit unserem Vorhaben zusammenpasst.
Schritt 5: Text und Bewegung
Ich lerne Text am besten, wenn ich mich dabei bewege. Mittlerweile belegen viele Studien, dass man in Bewegung leichter lernt. Erst kürzlich habe ich ein Feature für das Deutschlandradio gesprochen, in dem es unter anderem um Schulen ging, in denen die Kinder während des Unterrichts abwechselnd auf einem Ergometer sitzen und strampeln dürfen. Die schulischen Leistungen dieser Kinder waren signifikant besser als diejenigen von Kindern der gleichen Schule, die „unbewegt“ lernen mussten. Bewegung hilft beim Lernen. Hier ist der Link zu dem Feature „Kopf statt Körper“.
Diese Erkenntnis machen wir uns zunutze! Ich lerne seit Jahren Text auf dem Laufband (natürlich in moderatem Tempo!) und beim Spazieren gehen. Ich nehme mir meinen Text und spaziere durch den Park. Dort murmele ich vor mich hin und wenn ich nicht mehr weiterweiß, dann ist sofort klar, welche Textstelle meiner besonderen Aufmerksamkeit bedarf.
Insbesondere für längere Texte ist das Spazierengehen meiner Erfahrung nach die ideale Lernmethode.
Tipp: Fang beim Lernen nicht immer wieder am Anfang an. Wenn du z. B. in der Mitte des Textes nicht weiter weißt, dann übe dieses Stück extra. Denn sonst kannst du irgendwann den Anfang perfekt, die Mitte einigermaßen und das Ende gar nicht, weil du so weit nie gekommen bist. Gib allen Textteilen möglichst die gleiche Aufmerksamkeit, damit es rund wird.
Schritt 6: Lernen durch Hören
Im nächsten Schritt nehme ich alle meine Szenen mit dem Diktiergerät auf. Meine eigenen Texte spare ich dabei aus, so dass ich alle anderen Rollen reden höre und meine Repliken an den richtigen Stellen einfüge.
Tipp: Die „Rede-Methode“ von Vera Birkenbihl
Vera Birkenbihl erzählt in einem ihrer Videos, dass sie ihre Vorträge immer redend entwickelt hat. Sie hat keinen Text geschrieben, sondern mit dem Diktiergerät „drauflosgeredet“, sich das Ergebnis angehört, neu aufgenommen, usw. bis sie mit dem Ergebnis zufrieden war. Das Auswendiglernen fand in diesem Prozess fast automatisch statt. Das ist eine gute Methode, wenn man sich in seinem Thema gut auskennt und viel dazu zu sagen hat. Durch das Hören und neu Aufnehmen kristallisiert sich schlussendlich die Essenz heraus.
Schritt 7: It´s impro-time!
Nun probiere ich die Rolle auf verschiedene Weise aus. Beim Lesen erschien sie mir sanftmütig wie ein Reh? Was passiert, wenn ich sie aufbrausend anlege? Sie wirkt eher ruhig? Ich spreche den Text hektisch schnell!
Das ist ein Spaß für mich, hat aber auch einen ernsthaften Hintergrund. Manchmal gehen wir davon aus, dass ein Text so und nicht anders gesprochen werden muss. Wenn wir unsere eigenen Vorurteile durchbrechen und etwas anderes ausprobieren, finden wir manchmal zuvor verborgene Möglichkeiten. Es bereichert die Textarbeit und manchmal bleibt ein kleiner Rest „Aufbrausen“ in der sanftmütigen Interpretation erhalten oder umgekehrt.
Zusätzlich spreche ich den Text in den unterschiedlichsten Situationen. Bei der Hausarbeit. Beim Trampolinspringen. Liegend. Sitzend. Stehend.
Auf diesem Wege lernt mein Gehirn, dass es nicht reicht, den Text abzuliefern. Es (also das Gehirn) muss in der Lage sein, andere Dinge parallel zu bewerkstelligen. Schauspieler*innen reden ja nicht nur, sie binden gleichzeitig ein Pferd fest, fahren Auto oder geben einem Patienten eine Spritze. All das soll lässig und selbstverständlich nebenher erledigt werden, auch wenn die Schauspielerin es noch nie zuvorgetan hat.
Das gilt genauso für die Vorbereitung an einem Vortrag: es ist wichtig, sich trotz intensiver Vorbereitung die Flexibilität zu erhalten. Nur wer flexibel ist, kann souverän reagieren, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert und die eigene Planung über den Haufen wirft.
Schritt 8: Wiederholung – Und täglich grüßt…der Text
Sich jeden Tag mit dem Text beschäftigen – das ist mein Credo in der Vorbereitung.
Ich picke mir mal diese, mal jene Aufgabenstellung heraus. Manchmal fange ich in diesem Stadium noch mal von vorne an und lese die Szenen, als wäre es das erste Mal. Vielleicht habe ich etwas überlesen. Vielleicht fällt mir erst jetzt auf, dass zwischen meiner Rolle und ihrem Gegenüber ein Konflikt schwelt, oder dass jemand verliebt ist, oder dass sich in dieser Szene schon subtil ankündigt, wie die Geschichte enden wird. Manchmal wird man betriebsblind und das gilt auch für das Textlernen. Nochmal neu draufzuschauen kann nie schaden. Mittlerweile weiß man viel über die eigene Rolle und hat sich eine andere Perspektive geschaffen, da kann ein frischer Blick auf das vermeintlich Bekannte hilfreich sein.
Auch einen Vortragstext darf man sich in dieser Phase noch einmal mit frischen Augen ansehen. Lässt sich etwas kürzen? Oder am Anfang noch die anschauliche Geschichte einbauen, die man gestern erlebte? Kleine Änderungen sind jetzt, da man textsicher ist, kein Problem.
Schritt 9: Lernen mit Partner*in
Mit jemandem gemeinsam Text zu lernen, ist eine tolle und effektive Möglichkeit. Dafür braucht es ein geduldiges Gegenüber, das auf Fehler hinweist und, wo nötig, korrigiert. Wenn du jemanden hast, der oder die Spaß daran hat, probiere diese Methode unbedingt aus! Mit jemandem, der zuhört und auf den Text reagiert, können wir perfekt überprüfen, was beim Publikum „ankommt“.
Der Text bekommt oft nochmal eine neue Dimension und man entdeckt Aspekte, die vorher im Verborgenen geblieben waren. Selbst wenn die andere Person nicht im eigentlichen Sinne „mitspielt“, sondern nur zuhört, erfährt man oft Perspektiven, die sich einem selbst allein im Kämmerlein nicht eröffnet haben. Daher meine Empfehlung: Mit Partner*innen oder Zuhörer*innen macht das Textlernen doppelt so viel Spaß und es bereichert die Textarbeit enorm!
Das machen meine Kolleg*innen
Ich habe Kolleg*innen danach gefragt, wie sie eigentlich Text lernen. Häufig habe ich gehört, dass Schauspieler*innen den Text mit dem Handy aufnehmen und nur vom Hören lernen. Eine Kollegin schreibt alle Texte von Hand so oft ab, bis sie sie auswendig kann (auch ein Weg, den Text „in den Körper“ zu kriegen) und ein Kollege lernt überhaupt nicht, sondern improvisiert immer wieder, bis er den Text „so ungefähr“ kann. Das macht es den Mitspielenden nicht ganz leicht, weil sie vergeblich auf ihr Stichwort warten, aber es hält die ganze Sache frisch, denn alle müssen genau zuhören und aufmerksam sein, damit sie zum richtigen Zeitpunkt reagieren.
Bei einem Vortrag kann diese Methode sinnvoll sein, da man meist alleine vorträgt und niemand auf Stichworte wartet. Sie hat den Vorteil, dass man selbst, genau wie die Zuhörerschaft, wach und aufmerksam bleibt, weil man sich nicht auf auswendig Gelerntem ausruhen kann. Insbesondere bei Vorträgen, die man oft wiederholt, erhöht es für alle Beteiligten die Spannung, wenn manche Passagen teilweise improvisiert werden. Das erfordert Mut und Erfahrung. Doch wer sich auf die Suche nach Möglichkeiten dafür begibt, wird sie sicher finden.
Textlernen: Eine Frage des Talentes?
Ich denke, es ist deutlich geworden: Einen Text so zu lernen, dass er flüssig, selbstverständlich und leicht über die Lippen geht, kostet Zeit. Ihn so zu lernen, dass man dabei noch andere Dinge tun kann, z. B. eine ein Boot vertäuen, ein Eichhörnchen fangen oder eine fremde Küche aufräumen, kostet viel Zeit.
Die gute Nachricht ist: Textlernen hat mit Talent nichts zu tun. Es ist eine Fleißaufgabe. Wer also meinte, Text lernen sei für sie oder ihn nicht möglich, hat bisher vielleicht nicht genug Zeit investiert.
Wer textsicher vor anderen reden möchte, sei es als Schauspieler*in oder als Redner*in, wird um das Lernen nicht drum herumkommen. Wenn du meinem 9-Schritte-Programm folgst, wird es leichter sein, da du immer genau weißt, wie du vorgehen kannst. Teste es doch bei Gelegenheit aus und lass mich wissen, wie es dir damit erging!