Von der Schauspielerin zur Rhetorik Regisseurin

In der Drehbuch-Dramaturgie wird immer von Wendepunkten gesprochen. Ein Wendepunkt ist, wie der Name sagt, der Punkt, an dem sich z.B. das Leben der Protagonistin in eine andere Richtung wendet. Also: es sieht alles gut aus, sie bekommt den Job, aber plötzlich erfährt sie, dass ihr Mann sie betrügt. Oder: alles ist den Bach runter gegangen, doch plötzlich lernt sie diese unglaublich interessante Galeristin kennen und zufälligerweise hatten wir doch gesehen, dass sie heimlich so tolle Bilder malt! Schnitt: die Ausstellung wird ein Überraschungserfolg!

Naja, ganz so ist es nicht in meinem Leben und wahrscheinlich in den meisten Leben nicht. Aber natürlich gibt es Punkte, an denen sich etwas entscheidend verändert. Ich habe hier ein paar dieser Wendepunkte, die in irgendeiner Weise meine Richtung beeinflusst haben, zusammengetragen.

Viel Spaß beim Lesen!

Kinderladen Frankfurt, Anfang der 70er Jahre

Eine meiner frühesten Erinnerungen ist die Zirkusaufführung. Alle Kinder sind verkleidet. Ich trage ein rosa-weiß gestreiftes Unterhemd, an das meine Mutter rosa Tüll angenäht hat (was ich ihr, während ich das schreibe, hoch anrechne, denn meine Mutter hat Handarbeiten schon immer gehasst). Ich bin also, logisch, die Seiltänzerin. Meine beste Freundin trägt ein Seehund-Ganzkörperkostüm. So etwas habe ich noch nie gesehen, ich bin baff vor Bewunderung.  

Erstes Schultheater, „Eingangsstufe“

Zwei Projekte sollen zur Einschulung der neuen ersten Klassen aufgeführt werden: ein Theater- und ein Musikstück. Die betreuenden Lehrer wollen beide, dass ich jeweils in ihrer Gruppe mitspiele. Schließlich übernehme ich die Hauptrolle im Theaterstück. Meine erste Hosenrolle: ich spiele den „Hans im Glück“.

Schule, 70/80er Jahre

Die ganze Schulzeit über habe ich tolle Lehrer*innen, vor allem in meinen Lieblingsfächern Deutsch und Englisch. Sie fordern und fördern mich, so, wie man es sich wünscht. Vor einigen Wochen sah ich auf dem Frankfurter Friedhof das Grab von Frau Dr. Zipf und habe ihr still gedankt. Sie war eine sehr altmodische Lehrerin, immer im Kostüm, immer mit Hut, gleichzeitig hat sie uns motiviert und Aufgaben gestellt, an die ich mich heute noch erinnere. Mein Berufswunsch steht: Lehrerin, Nebenberuf Schriftstellerin.

Kindersprecherin im Schulfunk, ab Mitte der 70er Jahre

Meine Eltern sprechen häufig beim Hessischen Rundfunk, da ergibt es sich immer wieder, dass ich vor dem Studio warte und gesagt wird: komm doch mal kurz rein und sag mal das und das. Für den Rundfunk praktisch, sie müssen nicht extra ein Kind kommen lassen, und für mich mein erster Job, denn die „Arbeit“ wird bezahlt. Von dem Geld kaufe ich mir „Biegepüppchen“, mit denen ich gemeinsam mit meiner Cousine ganze Landschaften baue und wochenlang spiele (mit kurzen Unterbrechungen).

Jugendtheater, 1987

Mitte der 80er Jahre entdecke ich den „Schülerclub“ im Frankfurter Schauspielhaus: Jugendliche, die unter professionellen Bedingungen auf der kleinen Bühne im Kammerspiel auftreten. Ich sehe „Lucky Luke“ und bin total begeistert: da will ich mitmachen. Tatsächlich muss man eine mehrtätige „Prüfung“ bestehen, um aufgenommen zu werden. Ich bestehe und spiele in der nächsten Produktion die „Kunigunde“ in „Candide oder die beste aller Welten“. Bei der Premiere fühlen wir uns wie Giganten: wir werden bejubelt und sind außer Rand und Band! Das Berufsziel Lehrerin ist damit vergessen.

Schauspielschule Hannover

Nach der Aufnahmeprüfung an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover. Meine Klassenkamerad*innen und ich haben einen der begehrten 12 Plätze ergattert, bei über 800 Bewerber*innen! Wir haben´s geschafft, wir sind glücklich, wir sind die Größten! Schon nach wenigen Tagen wird uns dieser Zahn gezogen, das Credo unserer Lehrer: wir können gar nichts, wir müssen alles lernen und auftreten dürfen wir erst in zwei Jahren!

Beginn der Arbeit, 1993

Trotz Auftrittsverbot durch die Schauspielschule drehen einige von uns immer mal wieder für ein oder zwei Tage, so auch ich. Nach der Ausbildung geht es dann richtig los. Ich bekomme eine Hauptrolle in einer 10-teiligen Serie („Zwei Männer und die Frauen“) und ziehe dafür nach München und zwei Monate nach Rom! Kurz danach kommt das Angebot für den Film „Kommt Mausi raus“ mit Julia Richter, der nach wie vor einer meiner Lieblingsfilme ist. Das Reisen, das Wohnen in Hotels, die Arbeit mit vielen unterschiedlichen Leuten: ich finde alles aufregend!

Familie, Kind, auf´s Land, Ende der 90er

Eines Tages wird klar: Ein Kind ist unterwegs. Der Vater und ich wollen zusammenziehen – aber wo? Er lebt in Frankreich, ich in Berlin. Der Kompromiss liegt auf der Hand: Sachsen-Anhalt. Wir kaufen ein stattliches Anwesen (hinterher wird sich herausstellen, dass es viel zu stattlich für uns ist, die Arbeit ist nicht zu schaffen, aber das wissen wir damals noch nicht) und ziehen in ein Dorf an der Elbe.

Zürich, 2001

Im Schauspielerleben sind Ortswechsel normal, wir ziehen also von Sachsen-Anhalt nach Zürich und arbeiten dort am Theater. Die Stimmung ist großartig, die Truppe auch. Nach eineinhalb Jahren ist Schluss und ich gehe zurück nach Deutschland, Hamburg wird für ein paar Jahre unser Zuhause.

Yogalehrerausbildung, 2003

In Hamburg beginne ich 2003 mit einer Yogalehrer-Ausbildung. Ich bin vom Yoga begeistert seit wir auf der Schauspielschule einen russischen Dozenten zu Gast hatten, der täglich Yogaklassen anbot – ohne sie allerdings „Yoga“ zu nennen. Wir wussten gar nicht, was wir da machten! Ich war sofort süchtig und als ich Jahre später herausfand, dass diese fantastischen Übungen Yogaübungen waren, begann meine Reise von der Yogaschülerin zur sehr aktiven Praktiziererin hin zur Lehrerausbildung. Ein paar Jahre unterrichte ich neben der Schauspielerei Yoga in einem kleinen Studio bei mir um die Ecke. Ich liebte es, morgens kurz nach Sonnenaufgang das Studio aufzuschließen und die erste Klasse des Tages zu unterrichten!

Inventur, 2004

Das Kind kommt in die Schule und mir wird klar: so kann das alles nicht weitergehen. Wir sind in 10 Jahren zehnmal umgezogen. Ich entscheide mich, zurück nach Berlin zu ziehen und dort zu bleiben bis das Kind Abitur hat. Danach kann man weitersehen. Gesagt, getan. 2004 ist es ein Leichtes, in Berlin eine Wohnung zu finden. Ich spaziere durch leere Wohnungen und nehme sie nicht, weil der Balkon nach Norden geht oder es keine Badewanne gibt. Wenige Monate später wohnen wir im Prenzlauer Berg, blicken ins Grüne und haben sowohl Sonnenbalkon als auch Badewanne. Aus heutiger Sicht kaum noch vorstellbar…

Zweites Studium, 2009

Wir sind in Berlin eingerichtet, ich arbeite regelmäßig, habe aber zwischendurch viel Zeit und große Lust, wieder etwas zu lernen. Was liegt näher, als nochmal Studentin zu werden? Meine Liebe zu Sprache(n) wird der Motor für den nächsten Schritt: ich schreibe mich in der Skandinavistik ein, Nebenfach Europäische Ethnologie. Das Studieren fällt mir leichter als gedacht. Die Studierenden nehmen mich in ihrer Mitte auf und wir arbeiten bestens zusammen. Ich höre immer wieder von „älteren“ Menschen (also jenseits der 35), sie würden gerne nochmal studieren, aber die jungen Studierenden würden sicher komisch auf sie „Alten“ reagieren. Das kann ich nicht bestätigen. Das zweite Studium war eine der besten Entscheidungen meines Lebens! (Manchmal wurde ich natürlich für die Dozentin gehalten statt für eine Kommilitonin: „Haben Sie den Schlüssel für Raum 308?“)

Schweden, 2011

Ich erhalte ein Erasmus-Stipendium und das Kind willigt ein, für ein Jahr nach Stockholm zu gehen. Ich studiere Rhetorik an der Stockholmer Universität, unterrichte die Theatergruppe der Deutschen Schule und spiele selbst beim Tjeckov-Ensemblen in dem Stück „Ivanov“ die Rolle Anna. Auf Schwedisch, klar. Das Kind hat ein wunderbares Schuljahr in einer Klasse mit nur 17 Kindern. Für mich stellt sich nach zehn Monaten die Frage, ob wir nicht bleiben sollen, aber das Kind will nach Hause. In meinem Rhetorik-Seminar gewinne ich den ersten Preis für meine Abschlussrede. Als ich meinem deutschen Prof davon erzähle und sage, solche Seminare sollte es auch in Berlin geben, sagt er nur trocken: „Na, dann schreib ein Konzept!“

2012, das Jahr Eins in Rhetorik (für mich)

Ich beginne, Rhetorik auf Schwedisch an der Humboldt-Universität im Fachbereich Skandinavistik zu unterrichten. Ich werde meinem Prof und dem ganzen Fachbereich ewig dankbar sein, dass sie mir das zugetraut und mich haben machen lassen! Und den Studierenden, die meine ersten Versuche geduldig begleitet und sich auf alles eingelassen haben, danke ich an dieser Stelle auch mal explizit!

Skandinavistik allüberall!

Das Interesse an meinen schwedischsprachigen Rhetorik-Seminaren wächst, ich fahre an Unis mit Skandinavistik-Abteilung und gebe hier ein Blockseminar, dort ein 14-tägiges Seminar und dazwischen Tageskurse. Irgendwann kommt mir der Gedanke, man könnte das ja eigentlich auch mal auf Deutsch anbieten! Aber vorher spiele ich nochmal Theater…

240 Stunden-Theaterstück, 2014

Das Projekt „Meat“ an der Schaubühne in Berlin im Rahmen des „FIND“-Festivals ist wirklich völlig verrückt! 240 Stunden dauert das Stück, 10 Tage lang spielen wir non-Stopp, Tag und Nacht. Man kauft sich Tickets für Zeitfenster und spaziert durch unsere Welt wie durch eine belebte Puppenstube. Wohnungen, eine Kneipe, kleine Bühnen, ein Stripclub, ein Marktplatz; alles vorhanden und alles bespielt. Es macht großen Spaß, ich treffe interessante Leute, aber ich merke auch, wie froh ich über mein zweites Standbein bin; meine Kurse, meine Seminare, die mir Bodenhaftung geben und so die Gewichtung verteilen.

2015-2019…

…beginne ich, Workshops für Jugendliche zu geben. Bildungsfern, kulturfern sind diese Jugendlichen, die einen künstlerischen Beruf ergreifen wollen, aber keine Kontakte und wenig Erfahrung haben und teilweise noch sehr unkonkrete Vorstellungen. Eine starke Energie und Kraft geht von ihnen aus, sie beeindrucken mich mit ihrer Entschlossenheit. Mit ihnen zu arbeiten ist Inspiration pur!

Workshops und Seminare finden nun auch in anderen Bereichen statt: für Künstler*innen, für Design-Studierende, für Autor*innen. Die Arbeit daran wird immer spannender, vielseitiger und kreativer. Immer öfter werde ich jetzt nach Einzelcoachings gefragt: für Führungskräfte, die viel präsentieren, für Akademiker*innen, die sich neu bewerben oder für Menschen, die an ihrer Stimme arbeiten und professionell sprechen wollen.

Hauptrolle Kinofilm

2018/2019 drehe ich zum ersten Mal seit längerem wieder eine große Rolle in einem Kinofilm. „Wenn Fliegen träumen“ hat 2018 auf den Hofer Filmtagen Premiere, für die Rolle der Hannah werde ich sogar für den Jupiter-Award nominiert. Den erhält dann meine Filmschwester und großartige Kollegin Thelma Buabeng, aber so bleibt der Preis wenigstens in der Familie!

Erster Onlinekurs, 2022

Alles war gerade so schön in Schwung geraten, ich hatte herausfordernde Aufträge, viele Workshops und eine eigene Lesung geplant. Die Termine standen, alles war vereinbart. Dann kam Corona. Was konnte ich machen? Ich begann, mich mit dem Online-Arbeiten zu beschäftigen, lernte Zoom & Co kennen und bot verschiedene Formate online an. Zu meiner Überraschung (und Freude!) stellte sich heraus, dass meine Rhetorik- und Präsentationskurse wie gemacht sind für den Online-Unterricht. Der nächste Schritt: ich meldete mich selbst zu einem Kurs an, „Kickstart“ von Sigrun, in dem ich lernte, aus meinem Offline-Angebot ein reines Online-Angebot zu entwickeln.

Wie ich wurde, wer ich bin

Habe ich, hast Du, jetzt eine Antwort auf diese Frage bekommen? Für mich sind durch das Aufschreiben einige rote Fäden sichtbar geworden. Das gefällt mir. Es steckt ein Weg dahinter, eine Richtung, eben ein roter Faden, der mich leitet und an dem ich mich orientiere. Jetzt bin ich auf dem Weg zur Online-Unternehmerin, bereite meine nächsten Onlinekurse vor, einen zum Thema „Nervosität überwinden“ und einen zum Erstellen eigener Videos. Ich bin eine leidenschaftliche Lehrerin geworden, so, wie ich es als kleines Mädchen geplant hatte. Ich mache mir von morgens bis abends Gedanken darüber, wie ich etwas am besten vermittle, welche Übungen noch hilfreich wären, welche Metaphern für welche Rezipient*innen geeignet sind, welche Wege zum gewünschten Ergebnis führen. Eine Schauspielerin bin ich immer noch, aber eine mit zwei Standbeinen und Bodenhaftung. Was noch fehlt? Der andere Kindheitswunsch: Nebenberuf Schriftstellerin. Aber ich habe ja noch viel Zeit.